Das machen wir jetzt vor jeder Klassenarbeit!

Nein, diese Technik ist nicht speziell für Fremdsprachenlehrer, aber das kümmert mich nicht. Die Studie aus der sie stammt, versuchte die Durchfallrate sozial-ökonomisch benachteiligter Schüler im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich zu verringern. Das Ergebnis einer (von praktisch jedem Lehrer anwendbaren) Intervention war eine HALBIERUNG der Durchfallrate.

 

Das schaue ich mir für meinen Unterricht ab!

Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich unterrichte viele Schüler, deren Familien auf Unterstützung vom Staat angewiesen sind, und mir sind alle meine Schüler wichtig. Soziale Gerechtigkeit wird zudem immer wieder von internationalen Studien im deutschen Schulsystem bemängelt. In diesen düsteren Zeiten lese ich gern Artikel auf Goodnewsnetwork.com und Upworthy.com um nicht komplett in mediale Depression zu verfallen. Dieser Artikel stieß mich auf eine wirklich nützliche Studie mit praktischem Nutzen für meinen Unterricht.

Der Aufbau der Studie

Die Studie stützte sich auf andere Forschung, die gezeigt hatte, dass sozial-ökonomisch benachteiligte Schüler sehr sensibel für Situationen sind, in denen sie möglicherweise benachteiligt sind (Rejection Sensibility). Dieser mentale Effekt führt dazu, dass die Schüler unterschwellig ängstlicher sind und schlechter in Tests abschneiden (Performance Anxiety).
Die Studie mit über 1000 Schülern testete zwei Formen von kleiner Intervention (und die Kombination beider), mit wie ich finde beeindruckendem Ergebnis.
Eine Schülergruppe wurden direkt vor Beginn des Tests instruiert, 10 Minuten lang ihre Gedanken und Sorgen aufzuschreiben.
Eine zweite Gruppe las einen Artikel und beantwortete Fragen dazu. Der Artikel behandelte wie Angst und Nervositäts eigentlich hilfreiche Symptome für nützliche Aufregung sein können, die die eigenen Fähigkeiten unterstützt.
Die dritte Gruppe kombinierte gekürzte Versionen beider Aufgaben in der gleichen Zeit.
Die Kontrollgruppe sollte Angst und Nervosität einfach ignorieren.

Das Ergebnis

Die gesamte Studie könnt ihr hier nachlesen. Das Ergebnis der Studie zeigte große Unterschiede abhängig vom Hintergrund der Schüler. Schüler von höherem sozio-ökonomischem Status hatten keine Nachteile aber auch keine signifikanten Vorteile durch die Interventionen. Schüler, die für kostenloses Mittagessen qualifiziert waren, schnitten dagegen massiv besser in den nachfolgenden Tests ab. Es wurde vermutet, dass sie über weniger emotional regulierende Fähigkeiten verfügen und daher stärker profitieren.
Die kombinierte Aufgabe gab übrigens keine zusätzlichen Boni. Die Wissenschaftler stellten die Hypothese auf, dass die Reihenfolge der beiden Aufgaben eventuell getauscht werden sollte, so dass die Schüler erst den Artikel lesen und dann ihre Gedanken und Emotionen auf dieser Basis reevaluieren.
Im Ergebnis konnte die Studie die Durchfallrate der sozio-ökonomisch benachteiligten Schüler von 39% auf sagenhafte 18% senken und dadurch einen guten Teil zu sozialer Gerechtigkeit beitragen.

Ich werde diese zehn Minuten ab jetzt investieren, auch wenn ich dafür meine Klassenarbeit kürzen muss. Wie siehst du das? Ist es dir die Zeit Wert?

Kommentar schreiben

Kommentare: 7
  • #1

    Daniela Seifert (Sonntag, 20 Januar 2019 11:47)

    Hallo,

    die Zeit wäre es mir wert. Welche Fragen stellst du den Kindern genau? Sammelst du ihre Gedanken vor dem Test auch ein oder haben sie Kinder eine "Reflexionsmappe"?

    Danke für die Infos.

    Viele Grüße

    Daniela

  • #2

    Alexandra (Sonntag, 03 Februar 2019 16:50)

    Die Antworten zu Danielas Fragen interessieren mich auch. Vielen Dank für die tolle Arbeit, die du in diesen Blog steckst.

  • #3

    Charlotte (Sonntag, 03 Februar 2019 21:51)

    Vielen Dank für eure Kommentare und das liebe Kompliment, Alexandra. Das Einsammeln würde ich freiwillig machen. Das Behalten auch. Ist ja sehr intim. Das mit den Fragen muss ich mir mal genau überlegen und die Vorlage der Studie ansehen.

  • #4

    Gabi (Montag, 04 Februar 2019 10:38)

    Danke, Charlotte, für Deine Idealismus und Deinen ansteckenden Enthusiasmus!

    Vielleicht nutzt sich der Effekt ab, wenn man zu oft und zu systematisch immer gleich vorgeht.
    Ich kann mir parallel zu diesem wissenschaftsbasierten Modus auch vorstellen, dass ein kurzer Angstnehmer vor der Klassenarbeit immer (?) positiv wirkt. Man könnte auch kleinere Versuche starten und nach einem grundsätzlichen Gespräch über das Thema "Angst in Testsituationen" z.B. vor der Arbeit 3 Minuten vorschalten, in denen die SchülerInnen in Partnerarbeit über Ihre Gefühle in Bezug auf die Anforderungen sprechen.

    Nach meiner Erfahrung fällt die Angst auch, wenn man den SchülerInnen direkt vor der Arbeit noch Zeit gibt, Fragen zu stellen. Manchmal wiederhole ich direkt vorher auch noch bestimmte Aspekte der zu bearbeitenden Aufgaben (auch Formales oder die Klärung von Begriffen) und biete Zeit zum Nachfragen, sich gegenseitig Erklären etc. Das nimmt die innere Unruhe und stellt auf die Inhalte ein. Natürlich kann man nicht vermeiden, dass Einzelne auch in diesem System verunsichert bleiben. Da hilft manchmal ein Gespräch, z.B. wie mit einem Schüler in der 5. Klasse, der nach einem kurzen Blick von mir und einem Lächeln nach dem Austeilen der Arbeit (er wußte, das heißt: Du kannst das!) seine Nervosität reduzieren konnte. Diese zugegebenermaßen sehr individuelle (jeder hätte eine persönliche Ermunterung verdient, aber es geht eben nicht immer gerecht zu...) Strategie ergab sich in einem Elterngespräch, in dem die Mutter mir das Problem schilderte und einem darauffolgenden Gespräch zur Suche nach Lösungen mit dem Schüler.

    Im übrigen wird das Thema gerade in Frankreich debattiert (das kam vor wenigen Tagen in den Nachrichten: https://www.francetvinfo.fr/sante/enfant-ado/education-des-ecoliers-francais-trop-stresses_3172651.html), da die französischen Schülerinnen mehr Angst empfinden als andere Europäer. Woran es liegt? Sie bekommen zu wenig Rückmeldung von den Lehrern, dass ihnen etwas zugetraut wird!!! Im Zuge dessen wird mit Entspannungsübungen experimentiert, das wirkt auch...

  • #5

    Mei (Freitag, 08 Februar 2019 08:21)

    Hallo Charlotte, ich frage mich, ob man dann vor jeder Klausur die gleichen Fragen stellt bzw. man würde wohl kaum jedes Mal den gleichen Artikel zu Prüfungangst lesen, nicht wahr?
    Wie hast du das angedacht?
    Danke im Voraus

  • #6

    Andrea (Dienstag, 19 Februar 2019 21:39)

    Liebe Charlotte,
    großartig, dass Du dieses Thema aufgebracht hast. Ich habe einige jüngere Schüler, auch aus guten finanziellen Verhältnissen, die unsicher sind und sich wenig zutrauen.

    @ Gabi: vielen Dank für den Hinweis auf den tollen Beitrag aus Frankreich! Die Atemtechnik wende ich ab morgen in meiner fünften Klasse an!

    Liebe Grüße
    Andrea

  • #7

    Andrea (Montag, 01 Juli 2019 18:19)

    Danke Euch allen und vor allem Charlotte für Ihre tollen Anregungen - ich unterrichte Erwachsene und auch dort ! brauchen die Schüler den aufmunternden Blick und die Gewissheit - "ich kann das - die Lehrerin traut mir zu, es zu schaffen"!

    Mündliche Prüfungen halte ich immer als Fachgespräch in der Klasse ab - ich pick mir die Einzelnen "Prüflinge" 'raus, ohne, dass sie überhaupt merken, dass sie geprüft werden und nach dem Unterricht teile ich ihnen die Noten mit - das klappt toll und hat auch bei all den "schulgeschädigten", ängstlichen Schülern eine absolute Verbesserung ihrer mündlichen Noten zur Folge.

    Liebe Grüße und danke!
    Andrea